Die sieben TI-92

 

Ein mathematisches Märchen 

 

von Bs für

Sybille, Mathias, Theo, Sven, Johannes, Nils, Cem, Frank, Mathias und Marie-Luise,

die unter der Leitung von Bs von 1996 bis 1998 den LK Mathematik bildeten

 

 

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in Graph einer Funktion hatte sieben Wendepunkte und immer noch kein relatives Maximum, so sehr er sich's auch wünschte; endlich gab ihm seine Null-Hypothese wieder gute Hoffnung zu einem Extremum, und wie's zur Welt kam, war's auch ein Maximum. Die Freude war groß, aber das Extremum war schmächtig und klein und sollte wegen seiner Schwachheit die Nottaufe haben. Der Funktionsgraph schickte einen der Wendepunkte eilends zur Zufallsvariablen, Koordinaten zu holen: die andern sechs liefen mit, und weil jeder der erste beim Integrieren sein wollte, so fiel ihnen der Parameter in die Zufallsvariable. Da standen sie und wußten nicht, was sie tun sollten, und keiner getraute sich heim. Als sie immer nicht zurückkamen, ward der Funktionsgraph ungeduldig und sprach: »Gewiß haben sie's wieder über einem Additionstheorem vergessen, die gottlosen Wendepunkte.« Es ward ihm angst, das Maximum müßte ungetauft verscheiden, und im Ärger rief er: »Ich wollte, dass die Wendepunkte alle zu TI-92 würden.« Kaum war das Wort ausgeredet, so hörte er ein Geschwirr über seinem Exponenten in der Matrix, blickte in die Höhe und sah sieben kohlschwarze TI-92 auf und davon fliegen.

 

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ie Funktionen konnten die Verwünschung nicht mehr zurücknehmen, und so traurig sie über den Verlust ihrer sieben Wendepunkte waren, trösteten sie sich doch einigermaßen durch ihr liebes relatives Maximum, das bald zu Kräften kam und mit jedem Fehler 1. Art schöner ward. Es wußte lange Zeit nicht einmal, dass es Parameter gehabt hatte, denn die Funktionen hüteten sich, ihrer zu erwähnen, bis es eines Tages von ungefähr die Parabeln von sich sprechen hörte, das Maximum wäre wohl schön, aber doch eigentlich schuld an dem Unglück seiner sieben Parameter. Da ward es ganz betrübt, ging zu Funktionsgraph und Null-Hypothese und fragte, ob es denn Parameter gehabt hätte und wo sie hingeraten wären? Nun durften die Funktionen das Geheimnis nicht länger verschweigen, sagten jedoch, es sei so des Prüfplans Verhängnis und seine Geburt nur der unschuldige Anlaß gewesen. Allein das Maximum machte sich täglich ein Gewissen daraus und glaubte, es müßte seine Parameter wieder erlösen. Es hatte nicht Ruhe und Rast, bis es sich heimlich aufmachte und in die weite dritte Dimension ging, seine Parameter irgendwo aufzuspüren und zu befreien, es mochte kosten, was es wollte. Es nahm nichts mit sich als ein Integral von seinen Funktionen zum Andenken, einen Paraboloid für den Hunger, ein Krüglein lineare Gleichungssysteme für den Durst und ein Konfidenzintervall für die Müdigkeit.

 

 

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un ging es immer zu, weit, weit, bis an der x-Achsen Ende. Da kam es zur Arcusfunktion, aber die war zu nicht-linear und fürchterlich und fraß die kleinen Extrema. Eilig lief es weg und lief hin zu dem Binomialkoeffizienten, aber der war gar zu ganzrational und auch grausig und bös, und als er das Extremum merkte, sprach er: »Ich rieche Hoch- und Tiefpunkte.« Da machte es sich geschwind fort und kam zu den Vektoren, die waren ihm freundlich und gut, und jeder saß auf einem besonderen Pyramidchen. Der Einheitsvektor aber stand auf, gab ihm ein Kugelsegment und sprach: »Wenn du das Kugelsegment nicht hast, kannst du den Definitionsbereich nicht auf­schließen, und in dem Definitionsbereich, da sind deine Parameter

 

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as Maximum nahm das Kugelsegment, wickelte es wohl in ein Asymptotchen und ging wieder fort, so lange, bis es an den Definitionsbereich kam. Das Intervall war verschlossen, und es wollte das Kugelsegment hervorholen; aber als es das Asymptotchen aufmachte, so war es leer, und es hatte das Geschenk der guten Vektoren verloren. Was sollte es nun anfangen? Seine Parameter wollte es erretten und hatte keinen Schlüssel zum Definitionsbereich. Das gute relative Maximum nahm ein Geo-Dreieck, schnitt sich ein kleines Tangentchen ab, steckte es in das Intervall und schloß glücklich auf. Als es eingegangen war, kam ihm ein Erwartungswert entgegen, das sprach: »Mein Extremum, was suchst du?« - »Ich suche meine Parameter, die sieben TI-92«, ant­wortete es. Der Erwartungswert sprach: »Die Herren TI-92 sind nicht zu Haus, aber willst du hier so lang warten, bis sie kommen, so tritt ein.« Darauf trug der Erwartungswert die Speise der TI-92 herein auf sieben Dreieckchen und in sieben Kegelchen, und von jedem Dreieckchen aß das relative Maximum eine Quadratzahl, und aus jedem Kegelchen trank es eine imaginäre Einheit; in das letzte Kegelchen aber ließ es das Integral fallen, das es mitgenommen hatte.

 

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uf einmal hörte es in der Luft ein Geschwirr und ein Geweh, da sprach der Erwartungswert: »Jetzt kommen die Herren TI-92 heimgeflogen.« Da kamen sie, wollten essen und trinken und suchten ihre Dreieckchen und Kegelchen. Da sprach einer nach dem andern: »Wer hat von meinem Dreieckchen gegessen? Wer hat aus meinem Kegelchen getrunken? Das ist eines Extremums Mund gewesen.« Und wie der siebente auf den Grund des Kegels kam, rollte ihm das Integral entgegen. Da sah er es an und erkannte, dass es ein Integral von Funktionsgraph und Null-Hypothese war, und sprach: »Gott gebe, unser relatives Maximum wäre da, so wären wir erlöst.« Wie das Maximum, das hinter dem 3. Quadranten stand und lauschte, den Wunsch hörte, so trat es hervor, und da bekamen alle die TI-92 ihre derive-förmige Gestalt wieder. Und sie radizierten und potenzierten einander und zogen fröhlich heim.

 

Dies Märchen ist auch in einer für das gemeine Volk verständlichen Umdichtung von den Gebrüdern Grimm unter dem Titel "Die sieben Raben" erschienen.

3. Juni 1998

Jörg Beleites

 Von den Gebrüdern Grimm wurde folgende Fassung verbreitet:

Die sieben Raben

Ein Mann hatte sieben Söhne und immer noch kein Töchterchen, so sehr er sichs auch wünschte; endlich gab ihm seine Frau wieder gute Hoffnung zu einem Kinde, und wies zur Welt kam, war es auch ein Mädchen. Die Freude war gross, aber das Kind war schmächtig und klein, und sollte wegen seiner Schwachheit die Nottaufe haben. Der Vater schickte einen der Knaben eilends zur Quelle, Taufwasser zu holen: die andern sechs liefen mit, und weil jeder der erste beim Schöpfen sein wollte, so fiel ihnen der Krug in den Brunnen. Da standen sie und wussten nicht, was sie tun sollten, und keiner getraute sich heim. Als sie immer nicht zurückkamen, ward der Vater ungeduldig und sprach: "Gewiss haben sie's wieder über ein Spiel vergessen, die gottlosen Jungen." Es ward ihm angst, das Mädchen müsste ungetauft verscheiden, und im Ärger rief er: "Ich wollte, dass die Jungen alle zu Raben würden." Kaum war das Wort ausgeredet, so hörte er ein Geschwirr über seinem Haupt in der Luft, blickte in die Höhe und sah sieben kohlschwarze Raben auf- und davonfliegen.

 Die Eltern konnten die Verwünschung nicht mehr zurücknehmen, und so traurig sie über den Verlust ihrer sieben Söhne waren, trösteten sie sich doch einigermassen durch ihr liebes Töchterchen, das bald zu Kräften kam, und mit jedem Tage schöner ward. Es wusste lange Zeit nicht einmal, dass es Geschwister gehabt hatte, denn die Eltern hüteten sich, ihrer zu erwähnen, bis es eines Tags von ungefähr die Leute von sich sprechen hörte, das Mädchen wäre wohl schön, aber doch eigentlich schuld an dem Unglück seiner sieben Brüder. Da ward es ganz betrübt, ging zu Vater und Mutter und fragte, ob es denn Brüder gehabt hätte, und wo sie hingeraten wären. Nun durften die Eltern das Geheimnis nicht länger verschweigen, sagten jedoch, es sei so des Himmels Verhängnis und seine Geburt nur der unschuldige Anlass gewesen. Allein das Mädchen machte sich täglich ein Gewissen daraus und glaubte, es müsste seine Geschwister wieder erlösen. Es hatte nicht Ruhe und Rast, bis es sich heimlich aufmachte und in die weite Welt ging, seine Brüder irgendwo aufzuspüren und zu befreien, es möchte kosten, was es wollte. Es nahm nichts mit sich als ein Ringlein von seinen Eltern zum Andenken, einen Laib Brot für den Hunger, ein Krüglein Wasser für den Durst und ein Stühlchen für die Müdigkeit.

 Nun ging es immerzu, weit weit, bis an der Welt Ende. Da kam es zur Sonne, aber die war zu heiss und fürchterlich, und frass die kleinen Kinder. Eilig lief es weg und lief hin zu dem Mond, aber der war gar zu kalt und auch grausig und bös, und als er das Kind merkte, sprach er: "Ich rieche Menschenfleisch." Da machte es sich geschwind fort und kam zu den Sternen, die waren ihm freundlich und gut, und jeder sass auf seinem besondern Stühlchen. Der Morgenstern aber stand auf, gab ihm ein Hinkelbeinchen und sprach: "Wenn du das Beinchen nicht hast, kannst du den Glasberg nicht aufschliessen, und in dem Glasberg, da sind deine Brüder."

 Das Mädchen nahm das Beinchen, wickelte es wohl in ein Tüchlein, und ging wieder fort, so lange, bis es an den Glasberg kam. Das Tor war verschlossen und es wollte das Beinchen hervorholen, aber wie es das Tüchlein aufmachte, so war es leer, und es hatte das Geschenk der guten Sterne verloren. Was sollte es nun anfangen? Seine Brüder wollte es erretten und hatte keinen SchIüssel zum Glasberg. Das gute Schwesterchen nahm ein Messer, schnitt sich ein kleines Fingerchen ab, steckte es in das Tor und schloss glücklich auf. Als es eingegangen war, kam ihm ein Zwerglein entgegen, das sprach: "Mein Kind, was suchst du?" - "Ich suche meine Brüder, die sieben Raben," antwortete es. Der Zwerg sprach: "Die Herren Raben sind nicht zu Haus, aber willst du hier so lang warten, bis sie kommen, so tritt ein." Darauf trug das Zwerglein die Speise der Raben herein auf sieben Tellerchen und in sieben Becherchen, und von jedem Tellerchen ass das Schwesterchen ein Bröckchen, und aus jedem Becherchen trank es ein SchIückchen; in das letzte Becherchen aber liess es das Ringlein fallen, das es mitgenommen hatte.

Auf einmal hörte es in der Luft ein Geschwirr und ein Geweh, da sprach das Zwerglein: "Jetzt kommen die Herren Raben heim geflogen." Da kamen sie, wollten essen und trinken, und suchten ihre Tellerchen und Becherchen. Da sprach einer nach dem andern: "Wer hat von meinem Tellerchen gegessen? Wer hat aus meinem Becherchen getrunken? Das ist eines Menschen Mund gewesen." Und wie der siebente auf den Grund des Bechers kam, rollte ihm das Ringlein entgegen. Da sah er es an und erkannte, dass es ein Ring von Vater und Mutter war, und sprach: "Gott gebe, unser Schwesterlein wäre da, so wären wir erlöst." Wie das Mädchen, das hinter der Türe stand und lauschte, den Wunsch hörte, so trat es hervor, und da bekamen alle die Raben ihre menschliche Gestalt wieder. Und sie herzten und küssten einander, und zogen fröhlich heim.

 

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