Schokolade aus Wandsbek

ein Beitrag zur Industriegeschichte unseres Stadtteils

von

Jörg Beleites

Charlotte-Paulsen-Gymnasium
Hamburg-Wandsbek

Stichwörter des folgenden Artikels:
Badeeinrichtungen Kakao-Compagnie Theodor Reichardt, Stockmann-Werke
Neumann-Reichardt, Wohlfahrtseinrichtungen, Friedrich Neumann-Reichardt und seine Kakao-Compagnie

Kaum 400 m voneinander entfernt, gibt es zwei Orte im Kerngebiet von Wandsbek, die mit der industriellen Fertigung und Verarbeitung von Schokolade eng verbunden sind. Zum einen befand sich zwischen Zoll-, Morewood-, Neumann-Reichardt- und von-Bargen-Straße in den Gebäuden des heutigen Gewerbehofes von 1898 bis 1928 die Fabrik der Kakao-Compagnie Theodor Reichardt. Zum anderen werden seit 1949 auf dem ehemaligen Gelände der Actien-Bier-Brauerei Marienthal, das durch die Neumann-Reichardt-Str., die Efftingestr, die Straße Am Neumarkt sowie die Bundesbahnstrecke begrenzt wird, durch die Stockmann-Werke (und deren Nachfolger) schokoladehaltige Süßwaren hergestellt. In diesem Artikel soll erinnert werden an:
 


Friedrich Neumann-Reichardt und seine Kakao-Compagnie


 


1898 wurde die Kakao-Versand-Compagnie Theodor Reichardt von Halle/Saale (wo sie im Oktober 1892 von Friedrich Neumann zusammen mit seinem Schwiegervater Theodor Reichardt gegründet worden war) nach Wandsbek mit dem Namen Kakao-Compagnie Theodor Reichardt verlegt. Neumann hatte erkannt, daß Groß-Hamburg der richtige Standort für eine Kakaofabrik darstellte, da Hamburg seinerzeit der bedeutendste Rohkakaomarkt der Erde und der Haupteinfuhrplatz für dieses überseeische Erzeugnis war. In der Denkschrift anläßlich des 25jährigen Bestehens des Reichardtwerkes in Wandsbek (1917) lesen wir, daß F. Neumann "auf das große Ziel hinarbeitete, das er sich zur Lebensaufgabe gestellt hatte: den Kakao zu einem Volksgetränk zu machen. ... In Anerkennung seiner großen volkswirtschaftlichen Verdienste und seiner bedeutsamen sozialen Bestrebungen hat ihm die [preußische] Regierung im Jubiläumsjahr das Recht zur Führung des Familiennamens Neumann-Reichardt verliehen." Nach den mir vorliegenden Quellen scheint Friedrich Neumann (geb. am 19.1.1858) ein typischer patriachalischer Fabrikdirektor der Gründerzeit gewesen zu sein, der durchaus das Wohl seiner Arbeiter(innen) im Auge hatte, allerdings meistens in Hinblick auf das Wohl der Fabrik.

In dem 1913 erschienenen Sonderabdruck aus dem Kaiserjubiläumswerk "Die deutsche Industrie" über die Reichardt-Werke werden folgende Wohlfahrtseinrichtungen genannt:

- der Wirtschaftsverein, in dem Lebensmittel, Verbrauchsgegenstände und Brennmaterialien (insgesamt fast 400 Artikel) zu Großeinkaufspreisen an Arbeiter und Angestellte abgegeben wurden.

- die Speiseanstalt, "die sämtliche Arbeitspersonen und Angestellten mit einem Jahreseinkommen bis zu 2000 Mark ein ... schmackhaftes und reichliches Mittagessen" bot. Außerdem wurden "für den Preis von 25 Pfg. sogenannte Hausportionen für die Familienverpflegung zur Verzehrung im eigenen Hause abgegeben". Das in der Fabrik verzehrte Mittagessen war unentgeltlich, jedoch mußte jede Person 5 Pfg. in die Arbeiterunterstützungskasse zahlen. "Hierfür war die Erwägung maßgebend, daß dem Mittagessen für die Arbeiter der Charakter eines reinen Geschenkes seitens des Arbeitgebers genommen werden soll. Es ist dies ein ethisches Moment, dessen Bedeutung sich in der Praxis bewährt hat. Das Interesse der Arbeiter an dieser Wohlfahrtseinrichtung erhöht der Umstand, daß der Erlös in die Arbeiterunterstützungskasse fließt, also den Beteiligten in anderer Form wieder zugute kommt. Es liegt daher im eigenen Interesse der Arbeiter, die Einnahmen der Unterstützungskasse durch möglichst zahlreiche Beteiligung am Mittagessen so hoch wie möglich zu gestalten."

- die (gerade erwähnte) Arbeiterunterstützungskasse lieferte "die Mittel, um die Arbeiter in besonderen Notlagen, bei Krankheiten, Entbindungen, Konfirmationen usw. zu unterstützen und die Kosten einer Weihnachtsbescherung für Arbeiterkinder zu bestreiten."

- die Lieferung von Freigetränken (Kakao und Tee) in der Frühstücks- und Vesperpause an Angestellte und Arbeiter. "Die Bedeutung dieser Einrichtung liegt ... vor allem auch darin, daß der Genuß alkoholischer Getränke in den Fabrikräumen auf diese Weise auf das denkbar geringste Maß beschränkt wird. Nach langjährigen Beobachtungen ist gerade diesen Arbeitsgetränken ein hoher volkswirtschaftlicher Wert beizumessen, da sie nicht nur den Alkoholkonsum an sich vermindern, sondern den Arbeitern statt der Reizmittel tatsächlich Nährwerte geben".

- die freie Lieferung von Arbeitskleidung, "die auch in eigener mit Maschinen betriebener Wäscherei gereinigt wird".

- zwei separierte Badeeinrichtungen für Männer und Frauen, "wie sie in gleicher Vollkommenheit nur in wenigen ganz großen Betrieben bestehen dürften. Außer den üblichen Duschbädern gibt es geräumige Schwimmbäder, deren Bassins die in den öffentliche Bädern üblichen Dimensionen aufweisen. Das Männer-Bassin hat eine Länge von 25 m bei einer Breite von 7 m, während das Frauen-Bassin bei gleicher Breite eine Länge von 19 m aufweist. ... Gerade das Schwimmbad ... ist geeignet, die Lust am Baden und damit auch an peinlichster Sauberkeit des Körpers, die für Arbeiter der Nahrunsgmittel-Industrie besonders wertvoll ist, zu heben. Es ist Vorkehrung getroffen, daß jeder Arbeiter und jede Arbeiterin wöchentlich wenigstens einmal von dieser Badegelegenheit Gebrauch macht." - Auch nach der Auflösung der Reichardtwerke wurde diese Anlage bis zum Neubau des Hallenbades an der Wendemuthstraße als öffentliches Bad genutzt - viele Wandsbeker Kinder haben dort bis in die siebziger Jahre hinein ihr Schulschwimmen absolviert.

- das Reichardt-Heim, ein ehemaliges Marienthaler Waldhotel, das "außer zwei Festsälen hundert Zimmer" enthält. "Das Heim ist in erster Linie dazu bestimmt, unverheirateten Arbeiterinnen gesunde und billige Wohnung zu verschaffen. Sie erhalten für den Preis von 70 Pfg. täglich Wohnung und volle Verpflegung".

Weiter hieß es 1913: "die Wohlfahrtseinrichtungen der Kakao-Compagnie" sind geeignet "nicht nur eine weitere Verschärfung der sozialen Gegensätze zu verhindern, sondern auch das wünschenswerte Verhältnis zwischen Arbeiter und Arbeitgeber herbeizuführen, welches in gegenseitiger Wertschätzung seine feste Grundlage findet." Die Wirklichkeit sah allerdings teilweise anders aus: Nach Mißhandlungen durch Vorgesetzte streikten vom 17.4.1905 bis zum 21.6.1905 die Arbeiter der Reichardtwerke; das gewerkschaftliche Organisationsverbot wurde damals durch die Geschäftsleitung ausdrücklich wiederholt.

Innerhalb von 18 Jahren entwickelte sich das Werk zu Wandsbeks größtem Betrieb (1899: 75 Mitarbeiter; 1907: 591 Beschäftigte; 1911: 868); nach dem 1. Weltkrieg wurde es unter der Leitung von Friedrich Neumann-Reichardt zu Deutschlands größtem Kakao- und Schokoladenwerk mit bis zu 4000 Mitarbeitern (1923: 3690 Betriebsangehörige).

Doch die allgemeine schlechte wirtschaftliche Lage machte auch der größten Kakao-Fabrik Kontinentaleuropas zu schaffen. In den im Hamburger Staatsarchiv aufbewahrten Berichten über die Verwaltung und den Stand der Gemeindeangelegenheiten der Stadt Wandsbek wird für das Jahr 1925 berichtet: " ... , selbst die Reichardtwerke mußten im Dezember 1925 infolge Absatzmangels ihren Betrieb vorübergehend stillegen und damit 2800 Arbeitnehmer entlassen, von denen 1293 in Wandsbek wohnhaft waren. Bei Wiedereröffnung des Betriebes konnte kaum die Hälfte der bisherigen Belegschaft wieder beschäftigt werden". Im Januar 1928 "feierte Generaldirektor Dr. h.c. Friedrich Neumann-Reichardt in ungewöhnlicher Rüstigkeit seinen 70. Geburtstag", so berichten (mit Bild des Jubilars) der Hannoverschen Kurier und das Hamburger Fremdenblatt. Doch bereits am 14.3.1928 steht in der letzgenannten Zeitung unter der Überschrift "Verkauf der Kakao-Kompagnie ...", daß die Gesellschaft "an eine Gruppe unter Führung der Dresdner Bank in Hamburg" verkauft wird. "Dieser Gruppe gehört auch die Firma F. Schicht in Aussig an. ... Die Gruppe wird etwa 75 Prozent des Stammkapitals von 10 Mill. RM erwerben". Schicht war ein tschechischer Margarine-Industrieller. "Nach Abschluß des Vertrages beabsichtigt ... Neumann-Reichardt aus der Geschäftsführung auszuscheiden". Der Verkauf hatte unerwartete Folgen: der Betrieb wurde aus Wandsbek verlagert, die Arbeitslosigkeit stieg in der Stadt daher erheblich an. Die Schokoladenproduktion hatte damit in Wandsbek vorläufig ihr Ende gefunden. Auch eine am 29.12.1920 unter der Nummer HR B 60 in das Handelsregister des Amtsgerichts Wandsbek eingetragene Kakaohand GmbH, deren Geschäftsführer ebenfalls F. Neumann-Reichardt war, (und in deren Gesellschafterliste u.a. Frau Lydia Peterson-Dewiel [eine Tochter von F. Neumann-Reichardt] aufgeführt wird), wird am 30.12.1932 aufgelöst; am 5.4.1934 erfolgte der Löschungseintrag.

Das Gelände und die Gebäude dieses Werks blieben als Einheit erhalten, genutzt wurden sie allerdings von einer Reihe verschiedener Gewerbetreibender. In einer Liste aus dem Jahre 1937 werden u.a. folgende Produktionsstätten genannt:

Vordergebäude: Marzipanmasse, Kabelmaschinen, Nähmaschinen-Teilefabrik, Kaltasphalt, Turnschuhfabrik, Dichtungsmittel, Chemische Fabrik, Offsetdruck, Werkzeugfabrik

Ostgebäude: Holzbearbeitungsfabrik, Lackfabrik, Möbelfabrik

Mittelgebäude: Maschinenfabrik, Sargfabrik, Bettenfabrik, Coca-Cola-Verkaufsniederlassung, Schlosserwerkstatt, graphische Maschinen, Städtisches Hallenschwimmbad

Westgebäude: Spedition, Bohner-Fabrik, Korksteinfabrik, Fruchtimport

Heute (1995) dient der Komplex als Gewerbehof, er bietet Platz für eine Reihe von mittleren und kleinen Betrieben. Eine gute Übersicht über die derzeitige Nutzung verschafft einem die Liste, die sich am Eingangstor in der Neumann-Reichardt-Str. 29 - 33 befindet.

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